Denken bei 90 Umdrehungen pro Minute
„Nach oben buckeln, nach unten treten“ – das sogenannte Radfahrerprinzip war lange die Lieblingsmetapher kritischer Denker für autoritäre Haltungen. Der gebückte Radfahrer als Sinnbild des Kleinbürgers, der sich nach oben unterwirft und nach unten tritt. Bei Adorno war der Radfahrer eine Karikatur des autoritären Charakters, gebückt im Körper, gebrochen im Geist.
Guillaume Martin nimmt dieses Bild und tritt dagegen an – nicht nur rhetorisch, sondern buchstäblich. Der französische Radprofi, der auch einen Masterabschluss in Philosophie hat, lässt in Sokrates auf dem Rennrad große Denker der Geschichte auf zwei Rädern antreten. Kant, Nietzsche, Marx, Sartre: Sie alle werden Teil einer fiktiven Tour de France – mit echten Etappen, echtem Leiden, aber auch echten Gedanken.
Velosophie statt Klischee
Was bei Monty Python als Satire begann (Philosophen beim Fußballspiel), entwickelt Martin zu einem ebenso absurden wie ernst gemeinten Gedankenexperiment. Da ist Kant, der erfährt, dass der Start nicht in Königsberg ist. Da ist Marx, der sich über die Verteilung der Preisgelder empört. Da ist Nietzsche, der am Anstieg in sich hineinlacht. Und da ist Sartre, der sein Team zur existenziellen Selbstverwirklichung anstachelt.
Martin verwebt seine eigene Erfahrung im Profiradsport mit dem geistigen Erbe der europäischen Philosophie. Heraus kommt ein Buch, das Körper und Denken nicht trennt, sondern zusammenschaltet. Denn Denken im Wiegetritt ist nicht nur möglich, es ist vielleicht sogar notwendig.
Ein Klassiker von Desgrange bis Plessner
Die Idee, dass im Sport ein geistiger Kern liegt, ist älter als gedacht. Bereits 1895 veröffentlichte Henri Desgrange, der spätere Erfinder der Tour de France, das Buch La Tête et les Jambes. In Briefen an einen jungen Radfahrer erklärte er: Wer nur mit den Beinen fährt, hat das Wesentliche nicht verstanden. Auch der Kopf gehört aufs Rad. Damit ist der denkerische Anspruch eigentlich tief in die Radsport-DNA injiziert.
Noch radikaler dachte das später der Philosoph Helmuth Plessner. In seiner Theorie des „exzentrischen Standorts“ beschreibt er den Menschen als Wesen, das sich gleichzeitig selbst erlebt und von außen betrachten kann. Genau das passiert im Radsport: Wer am Limit fährt, ist ganz Körper – und zugleich ein fragendes Ich, das sich selbst beim Leiden zuschaut.
Für Martin ist Radfahren ein solcher Moment der Verdichtung. Ein Raum, in dem Philosophie nicht nur gedacht, sondern gefahren wird.
Nietzsche, Muskeln und der Wille zur Erkenntnis
Besonders stark wirkt Nietzsches Einfluss in Martins Denken. Nietzsche, der mit der Physiologie seiner Zeit auf Du und Du war, dachte den Körper nie als Gegensatz zum Geist, sondern als dessen Ursprung. Physiologloie und Philosophie fielen hier mitunter in eins. Seine Begriffe – Wille zur Macht, Erschöpfung, Wiederkehr – sind nicht nur Metaphern, sondern Kategorien sportlicher Erfahrung.
Wenn Martin Nietzsche auf dem Rad porträtiert, ist das keine Ironie, sondern ein intellektuelles Reenactment. Die Grenzerfahrung des Sports wird zum Prüfstein existenzieller Fragen. Und das Rennrad zum tragenden Gestell für das Denken unter Belastung.
Kein Platz für Trash Talk
Natürlich gibt es auch eine andere Radsportkultur. In zweigenössichen Podcasts wie wird bei Dosenbier Windkantenklatsch gesprochen, besonders darüber, wer aus dem Peloton beim Toilettengang die Tür auflässt – pointiert, charmant, aber selten tiefgründig. Viel Parole, wenig Inhalt, sodass echten Reflextionen mitunter die Luft im Raum zu Atmen fehlt. Martin dagegen schreibt gegen das Klischee vom dumpfen Fahrer. Sokrates auf dem Rennrad ist kein Klolektüre-Stoff, sondern eine Einladung zur Reflexion. Auf dem Rad. Mit Blick auf die nächste Rampe. Und auf sich selbst.
Fazit: Denkend treten, tretend denken
Man muss wie ein denkender Mensch handeln und wie ein handelnder Mensch denken, schrieb Henri Bergson. Guillaume Martin folgt diesem Leitsatz nicht nur auf dem Papier, sondern auf dem Asphalt. Sein Buch ist kein Manifest, sondern eine Einladung. Keine Theorieabhandlung, sondern eine Fahrt.
Ein Buch für alle, die glauben, dass Anstrengung nicht dumm macht. Und dass Philosophie nicht nur im Hörsaal lebt, sondern auch im Wiegetritt über einen Pyrenäenpass.
Über den Autor
Guillaume Martin, geboren 1993, ist einer der profiliertesten französischen Radprofis und zugleich studierter Philosoph. Er belegte Spitzenplätze bei der Tour de France und gewann das Bergtrikot der Vuelta a España. Sein Philosophiestudium absolvierte er an der Universität Paris-Nanterre, mit einem Schwerpunkt auf Friedrich Nietzsche. In der Öffentlichkeit wurde er schnell als „Nietzsche mit Rennlenker“ bekannt. Neben seiner Karriere als Fahrer schreibt Martin Kolumnen für Le Monde, Theaterstücke und Bücher. Sokrates auf dem Rennrad ist sein erstes Werk in deutscher Übersetzung – eine originelle Verbindung von Körperkultur und Denktradition.
Bibliografische Notiz
Martin, Guillaume (2021): Sokrates auf dem Rennrad. Eine Tour de France der Philosophen. Aus dem Französischen von Christoph Sanders. Bielefeld: Covadonga Verlag.
📝 Transparenzhinweis
Das Buch wurde uns vom Covadonga Verlag freundlicherweise als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Unsere Besprechung erfolgt unabhängig und gibt ausschließlich unsere eigene Einschätzung wieder.
No responses yet