Radfahren und Denken – ein Buch über Geschwindigkeit, Zweifel und Selbstermächtigung
Beim Radfahren bekommt der Kopf Rückenwind. Wer schon einmal im Sattel seine Runden gedreht hat, weiß: Kaum rollen die ersten Meter, kommen Gedanken in Schwung, die man zu Fuß so nie gefunden hätte. Die Philosophie des Radfahrens fängt genau dieses Gefühl ein – und macht daraus eine geistige Tour. Der Essayband, herausgegeben von Jesús Ilundáin-Agurruza, M. W. Austin und Peter Reichenbach, versammelt Stimmen aus aller Welt, die das Radfahren von Grund auf durchdenken.
Zwischen Asphalt und Einsicht
In 15 Essays zeigen Philosophieprofessorinnen, Radsportler und Journalisten, was das Radfahren ausmacht. Mal geht es um das euphorische Glück auf dem Sattel, mal um tiefgründige Fragen zu Ethik, Wettbewerb oder Körpergefühl. Unterschiedliche Perspektiven fahren hier im Windschatten zusammen: Da erklärt ein isländischer Gelehrter beim Mittagessen seinen Kollegen, warum das Fahrrad das klügste Alltags-Verkehrsmittel ist – und lernt, wie Recht er damit hat, als er selbst in die Pedale steigt. Dort zieht eine amerikanische Philosophin und Rennfahrerin aus ihren beinahe olympischen Erfahrungen die Lehre: „An der Startlinie sind wir alle Philosophen.“ Und ein anderer Denker verbindet die tragische Doping-Karriere von Marco Pantani mit dem Gefangenendilemma der Spieltheorie. So unterschiedlich diese Geschichten sind, sie kreisen alle um eine Kernidee: Radfahren verändert unsere Art zu denken. Schon Friedrich Nietzsche wusste, dass gute Einfälle Bewegung brauchen – die Autor*innen dieses Bandes liefern den lebendigen Beweis dazu, jeder auf seine Weise.
Wider die Wurstpelle: Radkultur ernst genommen
Das Buch leistet vor allem eines: Es nimmt die Fahrradkultur ernst, ohne dabei den Humor zu verlieren. Klar, über die Spezies Radfahrer gibt es genug Klischees – man denke an bierbäuchige Herren in hautengen Trikots, die für Spott sorgen. Doch Die Philosophie des Radfahrens schaut über solche Witze hinweg und tritt entschlossen für die Bedeutung des Fahrrads ein. Ob Genderfragen, Großstadtverkehr oder ökologische Verantwortung, ob das Gemeinschaftsgefühl bei einer Critical Mass oder die Frage „Wie sähe eine Welt aus, in der das Auto nicht König ist?“ – die Essays gehen ins Detail und diskutieren mit Haltung. Einige Kapitel lesen sich locker und mitreißend wie eine Sonntagsausfahrt im Sommer; andere fordern heraus wie heftiger Gegenwind im November. Aber genau darin liegt der Reiz dieser Lektüre: Sie ist ebenso unterhaltsam wie gedanklich belebend. Hier und da liest man Sätze, die man so schnell nicht vergisst. Das Fahrrad wird hier nicht als banales Fortbewegungsmittel abgehandelt, sondern als kulturelles Phänomen mit Tiefe und als Werkzeug, um die Gesellschaft in Bewegung zu bringen.
Höhenmeter für den Kopf: Ein Buch wie ein langer Aufstieg
Diese Sammlung ist kein Trainingshandbuch, sondern eine Abenteuerfahrt für den Geist. Die Tour durch die Texte verlangt dem Leser durchaus etwas Kondition ab – philosophische Kost will erstrampelt werden. Doch wer die Strecke mitfährt, dem eröffnet sich ein neuer Ausblick. Am Ende blickt man mit vielleicht müden Beinen, aber wachem Geist über den eigenen Lenker hinaus. Wenn man sich auf diese Lektüre einlässt, wird man das Fahrrad danach mit anderen Augen sehen – nicht mehr nur als tägliches Transportmittel, sondern als Teil einer Bewegung, die weit über den Asphalt hinausgeht.
Herausgeber:innen-Infos
Jesús Ilundáin-Agurruza
Professor für Philosophie am Linfield College, Oregon (USA). Seine Schwerpunkte liegen in Ethik, Ästhetik und Sportphilosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Verbindung von Philosophie und Praxis – u. a. zum Judo, Radfahren und Alltagsphänomenen.
M. W. Austin (Michael W. Austin)
Professor für Philosophie an der Eastern Kentucky University. Autor mehrerer Bücher über Ethik, Religion und Popkultur, darunter Cycling – Philosophy for Everyone. Befürworter einer öffentlichen Philosophie, die Lebenspraxis und Reflexion verbindet.
Peter Reichenbach
Studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft. Gründer des mairisch Verlags in Hamburg. Verleger, Herausgeber und Vermittler zwischen Feuilleton, Alltagskultur und Gegenwartsliteratur.
Bibliographische Angaben
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