Mythos auf zwei Rädern

Wenn Roland Barthes die Tour de France als „Epos unserer Zeit“ verstand, dann nicht etwa, weil sie bloß ein Sportereignis war, sondern weil sie – wie Homers Ilias – ein Ort war, an dem sich Menschliches und Göttliches ununterscheidbar durchdrangen. In Mythen des Alltags beschrieb er die Tour als ein sakrales Schauspiel, in dem der Fahrer nicht nur leidet, sondern auch berufen ist – als Träger eines numinosen Funkens, der weit über das eigene Muskelspiel hinausweist.

Vom Sakralen zum Spektakel

Benjo Masos Der Schweiß der Götter tritt, Jahrzehnte später, als kritische Fortschreibung dieses Denkens auf. Doch wo Barthes mit literarischer Semiologie operiert, geht Maso soziologisch vor – ohne das Staunen ganz zu verlieren. Sein Blick gilt nicht nur dem Mythos, sondern vor allem dem Mechanismus, der diesen Mythos fortlaufend produziert. Maso öffnet den Maschinenraum der Tour: Er analysiert, wie Fahrer, Sponsoren und Medien in einem komplexen Dreieck ökonomischer Interessen miteinander verstrickt sind. Die Grand Tours erscheinen so als präzise kuratierte Erzählmaschinen – Radsport als Text, Radsport für Leser, wie Maso betont, nicht für Zuschauer. Die Bahn war sichtbar, die Straße wurde imaginiert.

In diesem Spannungsfeld lässt Maso die Götter schwitzen – und zeigt, dass ihr Schweiß längst vermarktet ist. Trikots werden zu mobilen Werbeflächen, Fahrer zu Markenbotschaftern, Leiden zur Ware. Sponsoren gestalten nicht nur das Material, sondern auch die Dramaturgie, Teams planen ihre Auftritte mit Blick auf TV-Quoten und Markenpräsenz. Der Mythos, so zeigt Maso, ist nicht verschwunden – er ist nur integriert ins Markensystem.

Hier tritt Peter Sloterdijk ins Gespräch: In seinem Interview mit dem SPIEGEL beschreibt er die Tour als eine „immanent transzendente Zone“, als letzte Bastion des Heiligen im Zeitalter des durchökonomisierten Körpers. Für Sloterdijk ist der Mythos nicht tot – aber bedroht. Doping ist für ihn, wie einst für Barthes, ein Sakrileg: eine Profanierung des numinosen Moments. Der „Jump“, jenes unerklärliche Wiederauferstehen am Berg, sei nicht aus dem Labor zu erzeugen – sondern ein quasi-metaphysisches Phänomen. Sobald der Glanz des Unerklärlichen durch den Verdacht ersetzt wird, sehen wir statt Halbgöttern nur noch Facharbeiter auf Rädern.

Der Maschinenraum des Mythos

Maso würde dem nicht direkt widersprechen, aber sein Zugriff ist entzaubernder: Er zeigt, dass der Mythos der Tour nie jenseits der Machtverhältnisse existierte – sondern stets aus ihnen hervorging. Barthes glaubte noch an die göttliche Aura des Ventoux, Maso erklärt ihn als Bühne einer tief verwurzelten Medienökonomie. Und doch: Auch Maso bleibt fasziniert von dem, was bleibt, wenn man das Blendwerk abzieht. Er ist kein Zyniker. Sein Buch ist durchzogen von Bewunderung – für den Mut, die Entbehrung, die Fähigkeit, sich unter Bedingungen maximaler Fremdbestimmung noch als Individuum zu behaupten.

Sport als Erzählmaschine

Der Schweiß der Götter ist damit ein Brückentext: zwischen der Semiotik des Mythos (Barthes), dem Pathos des Numinosen und der nüchternen Analyse des Sports als Industrie. Ein Werk für alle, die nicht nur jubeln, sondern auch verstehen wollen. Die wissen, dass Sport nicht nur von Muskeln lebt – sondern von Erzählungen. Und die begreifen, dass gerade diese Erzählungen politisch, ökonomisch, symbolisch aufgeladen sind.

Ein Buch, das nicht entzaubert, sondern präzisiert. Und damit dem Mythos vielleicht näherkommt, als es der Glaube je könnte.

Zum Autor

Benjo Maso, geboren 1944, ist niederländischer Soziologe und Kulturhistoriker. Seit Jahrzehnten befasst er sich mit der Geschichte des Radsports, insbesondere mit der Tour de France als gesellschaftlichem und medialem Phänomen. Der Schweiß der Götter gilt als sein Hauptwerk; es erschien zunächst auf Niederländisch und wurde für die deutsche Ausgabe grundlegend überarbeitet. Neben diesem Buch ist auf Deutsch auch Wir alle waren Götter über die Tour de France von 1948 erschienen – beide im Covadonga Verlag.

Bibliographische Angabe:
Benjo Maso: Der Schweiß der Götter. Eine Analyse der Tour de France und ihrer Mythen, aus dem Niederländischen von Petra van Cronenburg. Aktualisierte Ausgabe. Bielefeld: Covadonga Verlag 2011. 288 Seiten. ISBN 978-3-936973-60-0.

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