Jan Heine und die Allroad-Idee als kulturhistorisches Kuriosum
Man muss Jan Heine fast bewundern – oder besser: bewundern wollen –, denn was er mit seinem Buch Ein Rad für alles vorlegt, ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Dokument. Nicht nur, weil es das Standardwerk zur Allroad-Bike-Idee ist – sondern weil es ein faszinierendes Stück Kulturtransfer in sich trägt: Der deutsche Ernst, in den USA gereift, gealtert und in praktischem Lycra neu aufgezogen.
Von losen Blättern zur Hardcover-Offenbarung
Was ursprünglich als lose gebundene Blätterlehre im Bicycle Quarterly erschien – jenem Heft, das irgendwo zwischen Fahrradtechnik-Zeitschrift, Passionariums-Ersatz und sakralem Objekt schwebt – liegt nun als gebundenes Evangelium vor. In Deutschland. Hardcover. Miyoshi-illustriert. Mit einem Vorwort wie ein Weihrauchfass.
Und natürlich geschieht das in typisch deutscher Manier: mit festem Einband, klarem Inhaltsverzeichnis, ISBN-Nummer und einer Ernsthaftigkeit, die selbst bei Reifendruckfragen nicht ins Wanken gerät. Es ist, als hätte man Hegel gebeten, ein Werkstattbuch für Fahrräder zu schreiben – aber einer aus Seattle hat’s dann gemacht.
Das Buch als Rückimport der Idee
Der wahre Bicycle Quarterly-Jünger kennt den Inhalt längst. Heine hat seine Theorien und Tüfteleien über Jahre hinweg häppchenweise veröffentlicht – auf Papier, das dünner war als französische Rennreifen und von Sammlern mit der Ehrfurcht behandelt wird, mit der andere ihre Erstpressung von Kind of Blue streicheln.
Nur: Diese heiligen Blätter sind in Deutschland kaum zu bekommen. Und genau deshalb ist dieses Buch für den hiesigen Markt relevant: Es enthält für Insider wenig Neues, aber für alle anderen ist es ein Schatz. Ein Konzentrat. Eine längst überfällige Offenlegung dessen, was lange nur einem kleinen Zirkel zugänglich war. Der Kult wird kanonisiert. Der lose Zettel wird zur Torah.
Die transatlantische Schleife der Theorie
Diese Geschichte ist auch Teil eines größeren kulturellen Musters – ein transatlantisches Pingpongspiel, das man aus der Geistesgeschichte kennt: Große Ideen beginnen in Frankreich, wandern in die USA, werden dort entkernt und neu verpackt – und kehren schließlich als „Trend“ nach Europa zurück.
Was einst Theorie war, wird Produkt. Was Philosophie war, wird Lifestyle.
Man denke an Foucault, Derrida oder Deleuze – einst spröde Denker, heute Bestseller bei Merve und Suhrkamp, nachdem amerikanische Universitäten ihnen Pop-Format verliehen. Auch Jan Heine folgt dieser Linie: Sein geistiger Ursprung liegt im Frankreich der Constructeurs, seine Wirkung aber entfaltet sich erst im amerikanischen Kontext – rationalisiert, testgetrieben, Foucault trifft Fahrradcomputer.
Das Gravelbike als industrialisierte Vision
Die populäre Gravelbike-Welle nahm in den USA Fahrt auf – beeinflusst von Heines Ideen, doch nicht im Geist der feinsinnigen französischen Constructeurs, sondern im Look der Carbon-Industrie mit Marketingpathos, Bikepacking-Romantik und Mounts überall.
Was Heine als Allroad-Bike definierte, wurde vom Markt kurzerhand als Gravelbike etikettiert. Und nun – Ironie der Ironie – kehrt „Allroad“ zurück: nicht als Weiterentwicklung, sondern als „neue“ Kategorie zwischen Gravel und Rennrad. Die Begriffe rotieren, während die Ursprungsidee kaum mehr zu erkennen ist.
Retro, Rendite, Reifen: Das Geschäft mit der Nostalgie
Während Heine in seinen Texten gegen die Mythen der Industrie anschreibt, betreibt er unter dem traditionsgeladenen Namen René Herse Cycles ein exklusives Retro-Imperium – mit Produkten, die technischer kaum sein könnten, aber aussehen wie aus der Vitrine eines Museums für französischen Feinsinn.
Besonders berühmt: die René-Herse-Reifen.
Hergestellt, so behaupten böse Zungen, eigentlich ganz profan von Panaracer in Japan – hauchzart, leistungsstark, wunderschön, sündhaft teuer. Die Preise bewegen sich in Sphären, in denen sonst Weine lagern oder Titanrahmen entstehen.
Und doch ist es eine kulturelle Paradoxie:
Während europäische Fahrer sehnsuchtsvoll diese US-Nostalgieprodukte importieren – inklusive Zoll, Lieferzeit und Vintage-Folklore – gäbe es handgemachte Alternativen aus der EU: etwa von Challenge oder FMB. Wer wirklich nah am Ideal des feinen, funktionalen Reifens bleiben möchte, müsste nicht über den Atlantik blicken – sondern einfach nur direkt nach Italien oder Frankreich.
Die Leerstelle Deutschland
Trotz seiner Herkunft bleibt Heine in einem Punkt auffällig zurückhaltend: Die deutsche Radgeschichte spielt in seinem Werk kaum eine Rolle. Es wirkt fast wie eine bewusste Verdrängung – als hätte der Auswanderer die eigenen Wurzeln gekappt, um die Rolle des Grenzgängers zwischen Frankreich und USA ungestört ausfüllen zu können.
Dabei gäbe es viel zu erzählen: die epischen Distanzradfahrten der Kaiserzeit, etwa Wien–Berlin, bei denen Fahrer in Baumwolltrikots, auf stählernen Rädern, durch Nacht, Regen und Kopfsteinpflaster jagten. Oder die präzise deutsche Handwerkskultur im Radbau, deren Geschichte weit mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.
Stattdessen zieht sich Heines Linie von Paris nach Portland. Deutschland bleibt ein Phantom. Dass das Buch nun hier erscheint – im einstigen Mutterland des Tourenrads – ist fast poetisch: Ein Rückimport der verdrängten Idee. Gebunden. Mit Lesebändchen.
Fazit: Ein Rad für (fast) alles, ein Buch für viele Anschlüsse
Ein Rad für alles ist ein Buch, das nicht nur von Technik erzählt, sondern von kultureller Orientierung. Von Begriffen, die wandern. Von Ideen, die entgleiten. Von Visionen, die verwirklicht wurden – aber anders.
Es ist Pionierarbeit, Manifest, Marketingdokument und Miniaturkulturgeschichte zugleich.
Ein Rad für alles?
Vielleicht.
Aber nicht für alle Geschichten. Manche warten noch darauf, dass jemand sie wieder aufpumpt.
Über den Autor
Jan Heine, geboren in Deutschland, lebt seit vielen Jahren in Seattle und gilt als einer der einflussreichsten Fahrradpublizisten der Gegenwart. Als Gründer des Magazins Bicycle Quarterly und Kopf von René Herse Cycles bewegt er sich seit Jahrzehnten an der Schnittstelle zwischen Forschung, Retroästhetik und realer Fahrradpraxis. Heine hat die internationale Diskussion über Reifentechnologie, Rahmengeometrie und Langstreckenkomfort nachhaltig geprägt – mit einem Stil, der deutsche Gründlichkeit mit amerikanischem Pragmatismus und französischem Esprit verbindet. Seine Bücher, darunter Die Räder der Sieger und Meisterwerke des Fahrradbaus, gelten längst als moderne Klassiker der Radszene.
Bibliografische Notiz
📝 Transparenzhinweis
Das Buch wurde uns vom Covadonga Verlag freundlicherweise als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Unsere Besprechung erfolgt unabhängig und gibt ausschließlich unsere eigene Einschätzung wieder.
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