Gravelreifen werden breiter. Nicht, weil es bequemer ist. Sondern weil es schneller ist. Das ist der eigentliche Twist: Die Erkenntnis kommt nicht von den Tourenfahrern, sondern von den Racern. Während im Adventure-Segment breite Reifen längst Standard sind – Salsa etwa hat das Thema seit Jahren durch – war die Performance-Fraktion skeptisch. Schmal bedeutete schnell. Das stand außer Frage.
Bis die Rennergebnisse das Gegenteil bewiesen: Unbound Gravel, Gravel Earth Series, The Rift, Badlands: Dort, wo Sekunden zählen und niemand auf Komfort optimiert, hat sich der Gravelreifen vom 38-mm-Kompromiss zur 50-mm-und-mehr-Waffe entwickelt. Was als Spielart des Rennrads begann, ist längst ein eigenständiges Terrain geworden. Und die Reifenbreite ist dabei zur entscheidenden Stellschraube geworden – weil sie unter realen Bedingungen schlicht schneller ist.
Die Physik schert sich nicht um Traditionen. Sie rechnet mit Grip, Dämpfung und Effizienz. Und in dieser Rechnung gewinnt Volumen.
Übersicht
Zwei Welten, eine Erkenntnis
Die Adventure-Szene hatte recht. Schon immer.
Bikes wie das Salsa Cutthroat oder Warbird kamen mit 50+ mm Reifenfreiheit auf den Markt, als die Rennradwelt noch bei 28 mm steckte. Für Bikepacking und Mehrtagestouren war das selbstverständlich: Volumen bedeutet Komfort, Pannensicherheit, Vielseitigkeit. Wer mit Gepäck durch Island, Kirgistan oder Patagonien fährt, braucht keine Diskussion über Rollwiderstand. Wer vier Wochen unterwegs ist, braucht Reifen, die durchhalten.
Aber: Diese Argumente überzeugten die Performance-Fraktion nie wirklich. Komfort klang nach Kompromiss. Vielseitigkeit nach Mittelmaß. Bikepacking nach Urlaub, nicht nach Racing.
Dann kamen die Rennergebnisse. Und mit ihnen eine Erkenntnis, die alles verschob.
Breite Reifen sind nicht nur komfortabler – sie sind unter realen Bedingungen auch schneller. Nicht auf der Rolle. Nicht im Windkanal. Sondern dort, wo es zählt: auf Schotter, in Kurven, bei wechselndem Untergrund, im Feld, nach 150 Kilometern, wenn die Arme müde werden und die Konzentration nachlässt.
Die Performance-Szene hat das verstanden – nicht durch Theorie, sondern durch Erfahrung. Und damit verschiebt sich die gesamte Gravelwelt.




Rennrealität: Theorie fährt keine Rennen
Die Papierform sagt: schmal rollt schneller.
Die Realität sagt: kommt drauf an, wo du fährst.
Im dichten Startfeld eines Gravelrennens gibt es keine Ideallinie – nur das, was übrig bleibt. Da rollt niemand auf dem glatten Mittelstreifen. Da wird gedrängelt, ausgewichen, überholt. Schlaglöcher müssen mitgenommen werden. Schmale Reifen mögen im Labor minimal schneller sein, aber sie verlangen perfekte Bedingungen. Und die gibt es bei Gravel nicht. Nie.
Breitere Reifen sind kein Komfortfeature, sie sind Effizienzgewinn. Sie verzeihen schlechte Linienwahl. Sie kompensieren Fehler. Sie halten dich stabil, wenn der Untergrund dich hasst. Und sie sorgen dafür, dass du Watt treten kannst, statt sie in Lenkerkorrekturen zu verbrennen. Die Leistung kann hier kontinuierlich erbracht und auf den Untergrund gebracht werden.
Ein 38er mag auf Asphalt schneller sein. Ein 50er bringt dich im echten Gelände schneller ans Ziel. Weil er dich fahren lässt, statt zu kämpfen.
Die Performance-Szene hat das verstanden – nicht durch Theorie, sondern durch Niederlagen. Durch Platten. Durch verlorene Positionen in technischen Passagen. Durch die Erkenntnis, dass Kontrolle schneller ist als Leichtbau.
Nicht zuletzt Fahrer und Coaches wie der Youtuber Dylan Johnson, die Gravel aus der Datenperspektive betrachten, bestätigen den Trend: Breite bringt Stabilität, spart Energie und reduziert Vibrationsverluste. Was früher als Komfort galt, gilt heute als Performance-Faktor.
Vom Gravel Race zur Gravel Torture
Die Veranstalter haben meist verstanden: Gravel ist keine kleine Version des Straßenrennens, sondern eine eigenständige Disziplin – härter, dreckiger, unberechenbarer.
Unbound Gravel: 200 Meilen, 92 Prozent Schotter, über 30 km/h Schnitt bei den Profis. Das funktioniert nur mit breiten Reifen, die nicht nervös werden, wenn es grob wird. Die schnellsten Fahrer:innen Lachlan Morton, Cameron Jones oder Keegan Swenson rollen inzwischen meist mit 45 mm und mehr – Tendenz steigend. Viele experimentieren mit deutlich breiteren Reifen. Einige fahren auf 50 mm plus – in Einzelrennen sogar 55 mm, wo Rahmenfreiheit es erlaubt Nicht weil sie gemütlich unterwegs sind, sondern weil sie es eilig haben. Weil sie wissen: Kontrolle schlägt Leichtbau. Flow schlägt Watts.
Belgian Waffle Ride: Singletrails, Rampen, lose Steine. Wer hier mit 38 mm startet, spielt Lotto mit der Physik. Wer gewinnen will, fährt breit. Unter 40mm fährt niemand mehr aufs Podium.
Und in Europa? Die Gravel Earth Series – mit Fahrer:innen wie Carolin Schiff und Ivar Slik – zeigt, dass die Strecken anspruchsvoller werden – mehr Höhenmeter, mehr Trailanteile, mehr Realität. 45 mm ist heute Basislager. 50 mm wird zum Standard. 55 mm? Kein Exot mehr, sondern schlicht vernünftig. Simen Nordahl Svendsen wurde 2024 Gesamtsieger der Gravel Earth Series und siegte u. a. bei The Rift – er gilt als Protagonist der neuen Gravel-Generation, die breite Reifen pusht. Seine Erfolge stehen dennoch exemplarisch für die neue Breite-Trendlinie.
Die Erkenntnis: Adventure und Performance sind keine Gegensätze. Sie konvergieren. Weil beides unter echten Bedingungen dasselbe braucht: Grip, Volumen, Stabilität. Die Physik ist gnadenlos demokratisch.
Grevet: Fahrbarkeit statt Folter
Unser eigenes Format Grevet setzt bewusst auf Fahrbarkeit. Während andere Formate die Torture-Schiene fahren – möglichst hart, möglichst unfahrbar, möglichst viel Schieben – geht es bei Grevet darum, dass man tatsächlich fahren kann. Lange Distanzen, aber fahrbar. Anspruchsvoll, aber nicht absurd. Gravel, nicht Hike-a-Bike.
Und gerade dennoch zeigt sich auch hier der Unterschied breiterer Reifen besonders deutlich.
Ich sehe den Trend jedes Jahr in der Praxis – bei unseren Events rund um Berlin, Brandenburg, Harz oder in den Alpen. Teilnehmende, die mit 38 oder 40 mm an den Start gehen, stehen spätestens im Steinmeer des Karst oder im Harzer Geröll vor der Wahrheit: Grip ist kein theoretischer Wert. Und Fahrbarkeit keine Selbstverständlichkeit.
Wer mit breiteren Reifen unterwegs ist, fährt einfach weiter. Ruhiger, konstanter, mit mehr Spaß. Auf langen Distanzen bedeutet das weniger Schläge, weniger Platten und vor allem: mehr Flow.
Besonders im Gebirge wird der Unterschied brutal sichtbar. Steile Schotterabfahrten, die mit 38 mm zur Rutschpartie werden, bleiben mit 50 mm kontrollierbar. Lose Auffahrten, wo schmale Reifen durchdrehen, greifen mit Volumen. Und technische Passagen, die sonst zur Schieberei zwingen, bleiben fahrbar. Fahrend, nicht schiebend – das ist der Unterschied.
Mehr Reifenbreite bedeutet hier nicht Komfort, sondern schlicht: mehr Spaß. Weil du fahrend ankommst, nicht fluchend. Weil du Energie in Vorwärtsbewegung steckst, nicht in Kampf gegen den Untergrund.
Gravel ist kein Hochglanz-Konzept. Es ist Realität. Und breite Reifen sind die beste Versicherung gegen DNF – und gegen schlechte Laune.
Fahreindrücke: Nordmarka, Norwegen & Nürnberger Land
Nordmarka, Norwegen: Wildnis vor der Haustür
Nordmarka – der große Wald nördlich von Oslo – ist mehr als nur ein Spielplatz für Einheimische. Es ist ein Tor zur Wildnis, das fast an der Stadtgrenze beginnt. Für Gravelfahrer:innen ein Paradies: endlose Forststraßen, stille Trails durch Fichten und Kiefern, steile Anstiege und lange, fließende Abfahrten. Seen tauchen aus dem Nebel auf, Hütten laden zu kurzen Stopps ein, und die Stille lässt vergessen, dass man nur Minuten von einer Hauptstadt entfernt ist.
Setup: Fara GR4, 700c Laufräder, 50 mm Schwalbe G-One Overland, 1×12 SRAM-Antrieb, Reifenfreiheit bis 57 mm. Reifendruck: 2,3 vorn, 2,5 hinten.
Edelschotter, Forstautobahnen, dann plötzlich Wurzeln, Granit, schlammige Trails. Auf Schotter: stabil, spurtreu, schnell. Auf Trails: überraschend souverän. Das Rad schluckt, was früher ein Hardtail brauchte.









Wurzeln werden zu Wellen, Waschbrettpisten zu Rhythmus. Das Rad bleibt ruhig, der Kopf auch. Und die Durchschnittsgeschwindigkeit? Höher als mit schmaleren Reifen, obwohl es sich entspannter anfühlt. Das ist der Trick: Weniger Kampf bedeutet mehr Speed. Weniger Korrektur bedeutet mehr Vorwärtsdrang.
Nach der Ausfahrt tief in Nordmarka rollt man zurück in die Stadt und tauscht Schotterstaub gegen Kultur – ein Abend im Opernhaus, Besuch im neuen Munch Museum oder einfach ein Spaziergang am Königspalast vorbei. Diese Mischung aus Wildnis und urbanem Leben, aus Abenteuer und Verfeinerung – nirgends sonst kommen diese beiden Welten so nahtlos zusammen. Oslo ist Gravel mit Opernhaus. Trails mit Tramverbindung.
Am Ende: keine müden Hände, kein Durchrütteln, kein Drama. Nur der Gedanke: Warum bin ich jemals schmaler gefahren?
Nürnberger Land: Fränkische Härte
Rund um Nürnberg zeigt sich eine andere Seite des Gravels: fränkischer Sandstein, steile Waldpassagen, technische Hohlwege. Das Nürnberger Land ist bekannt für seine kompromisslosen Anstiege und ruppigen Abfahrten – Terrain, das schmale Reifen gnadenlos bestraft.




Auch hier: das Fara GR4 mit 50 mm. Die breiten Reifen schlucken lose Steine auf schmalen Pfaden, halten das Rad in der Spur, wenn der Untergrund bröckelig wird. In steilen Rampen greifen sie dort, wo 38 mm längst durchdrehen würden. Und in den langen Abfahrten zurück ins Pegnitztal bleibt die Kontrolle, wo es sonst rutschig wird.
Fränkisches Gelände verzeiht keine Fehler – aber breite Reifen verzeihen den Fehler, mit zu schmalen Reifen unterwegs zu sein. Sie sind keine Entschuldigung. Sie sind Versicherung.
Technik: Reifenfreiheit bis 2,2 Zoll – die neue Normalität
Viele moderne Gravelrahmen bieten heute Reifenfreiheit bis 2,1 oder 2,2 Zoll (etwa 53 bis 56 mm) – Werte, die früher MTB-Territorium waren. Interessant: Viele dieser Rahmen kommen aus dem Performance-Lager, nicht aus der Adventure-Ecke. Die Racer haben verstanden, was die Touristen schon lange wussten.
Beispiele:
- Fara GR4 – 700×57 mm (2.25″), 1× only, Race-Gravel für Nordterrain
- Allied ABLE – bis 57 mm, purer Race-Gravel-Charakter
- Rodeo Labs Trail Donkey 4.0 – bis 56 mm (700c), 2.4″ mit 650b
- ENVE MOG – bis 50 mm (47 mm mit Umwerfer)
Ab etwa 50 mm lohnt der Griff zu XC-MTB-Reifen: robuster, pannenresistenter, oft günstiger als spezielle Gravelmodelle. Ein Race King 2.2″ oder Thunder Burt 2.1″ läuft auf Schotter hervorragend – nur mit mehr Reserve, weniger Risiko, mehr Pragmatismus.
Die Grenzen verschwimmen. Und das ist gut so.
Wichtig: Die angegebenen Reifenfreiheiten (bis 2.2 Zoll = 57 mm) sind theoretische Maximalwerte – gemessen ohne Schlamm und mit idealen Felgen/Reifen-Kombis. In der Praxis bleiben 3–5 mm Luft der Unterschied zwischen „passt“ und „kratzt“.
Wer also wirklich mit 2.1- oder 2.2-Zoll fahren will, sollte realistisch planen: viele dieser Rahmen funktionieren perfekt bis 50 mm, aber nicht jede Kombination aus Felge, Reifen und Dreck bleibt fahrbar.
Anders gesagt: Hersteller messen im Labor. Wir fahren in Brandenburg.

Breite hat ihren Preis. Aerodynamik und Gewicht: alte Argumente, neue Realität
Ab 50 mm wird’s eng im Rahmendreieck – der Umwerfer fliegt raus. 2×-Systeme verschwinden, 1×-Antriebe sind Standard. 10-50 Kassetten decken fast alles ab, nur im Hochgebirge mit Gepäck wird’s eng.
Aber für 95 Prozent der Fahrer:innen gilt: 1× ist einfacher, leichter, wartungsärmer. Und auch das kommt ursprünglich aus dem MTB-Bereich – wo Performance nie verhandelbar war. Wo Funktion vor Tradition kommt.
Lange galt: Breiter ist langsamer. Mehr Stirnfläche, mehr Luftwiderstand, mehr Masse.
Das stimmt – im Windkanal. Aber Gravel wird nicht im Windkanal gefahren.
Auf losem Untergrund kostet nicht die Luft, sondern der Boden Geschwindigkeit. Die Energieverluste durch Mikrostöße, Walkarbeit und korrigierende Lenkbewegungen übersteigen den aerodynamischen Nachteil breiter Reifen deutlich. Ein Reifen, der weniger springt, hält die Linie besser – und spart damit Watt. Stabilität ist hier Aerodynamik durch Ruhe.
Auch beim Gewicht relativiert sich vieles. Ja, ein 50-mm-Reifen wiegt meist 50 bis 120 Gramm mehr als ein 40er. Aber ein Plattenstopp kostet mehr. Ein kontrollierter, gleichmäßiger Tritt spart Energie, selbst wenn das Systemgewicht etwas steigt. Und viele moderne XC-Reifen in 2.1–2.2 Zoll wiegen kaum mehr als breite Gravelmodelle – bei höherer Robustheit.
Kurz gesagt:
Das Mehr an Volumen bringt nicht mehr Ballast, sondern mehr Effizienz. Auf echtem Terrain gewinnt nicht der leichteste, sondern der, der rollt – ununterbrochen.
Allroad: Die Schwesterdisziplin mit Geschichte
Zwischen klassischem Rennrad (28 bis 32 mm) und Gravel (50 mm plus) etabliert sich das Allroadbike – die urbane, effizientere Schwester des Gravelbikes. Doch die Idee ist alles andere als neu.



Das Rad für alles – oder: wie eine Vision zum Nischenprodukt wurde
Was heute als „Allroad“ vermarktet wird, war ursprünglich Jan Heines Vision vom Rad für alles: Ein Bike mit weitgehend klassischer Endurance-Rennrad-Geometrie, aber mit genug Reifenfreiheit für gemischtes Terrain. Die Idee stammte aus der französischen Randonneur-Tradition – Räder für lange Distanzen, für Brevets wie Paris-Brest-Paris, für TCR-ähnliche Abenteuer, bevor es TCR gab.
Heines Konzept war elegant: kein Kompromiss, sondern ein Bindeglied. Schnell genug für Asphalt, robust genug für Schotterpisten, komfortabel genug für 400-Kilometer-Tage. Das perfekte Randonneur-Rad. Das perfekte Brevet-Bike. Das perfekte Werkzeug für die Zone zwischen Rennrad und Gelände.
Dann kam die Industrie – und machte daraus Gravel.
Die populäre Gravelbike-Welle nahm in den USA Fahrt auf, beeinflusst von Heines Ideen, aber nicht im Geist der feinsinnigen französischen Constructeurs, sondern im Look der Carbon-Industrie: Marketingpathos, Bikepacking-Romantik, Mounts überall. Was Heine als Allroad-Bike definierte, wurde vom Markt kurzerhand als Gravelbike etikettiert.
Und nun – Ironie der Geschichte – kehrt „Allroad“ zurück: nicht als Weiterentwicklung, sondern als „neue“ Kategorie zwischen Gravel und Rennrad. Die Begriffe rotieren, während die Ursprungsidee kaum mehr zu erkennen ist. Marketing frisst Konzept.
Definition heute: Asphalt mit Schotter, nicht Schotter mit Asphalt
Allroad bedeutet heute: Dropbar-Geometrie mit Endurance-Charakter, Reifenfreiheit bis 40 bis 45 mm, komfortorientiert, oft 2×-tauglich. Ideal für Pendeln, Asphalt mit Schotteranteil, Wochenendtouren, Brevets und TCR-ähnliche Selbstversorger-Abenteuer.
Es ist das Rad, das Jan Heine ursprünglich meinte – bevor Gravel zur eigenständigen Disziplin wurde. Bevor die Marketing-Maschine die Begriffe durcheinanderwarf.
Beispiele:
- Allied ECHO – bis 40 mm, Flip-Chip für Road- oder Allroad-Modus
- Fara F/All-Road – bis 38 mm, 2× möglich, alltagstauglich
- Open MIN.D
Das Allroadbike tritt neben, nicht unter das Gravelbike. Wer Asphalt mit Schotter fährt, greift zum Allroad. Wer Schotter mit Asphalt fährt, braucht Gravel. Wer Brevets, TCR oder lange Randonneur-Strecken fährt, ist mit Allroad oft besser bedient – weil die Geometrie effizienter bleibt, während die Reifenfreiheit genug Spielraum für schlechte Wege lässt.
Dropbar-MTB: Evolutionsstufe oder absterbender Zweig?
Wer glaubt, bei 2,2 Zoll sei Schluss, hat die nächste Stufe schon übersehen – oder vielleicht das Ende: Dropbar-MTBs.
Hardtail-Rahmen, 29er-Laufräder, Dropbar dran, 1×-Antrieb, oft mit 70–100 mm Federgabel – das Konzept ist einfach: mehr Kontrolle, mehr Grip, mehr Abfahrtssicherheit.
Was früher als Bastelprojekt in Foren und Blogs kursierte, steht heute teils in Konfiguratoren.
Die Idee: Wenn Gravel immer breiter wird, warum nicht gleich ein MTB mit Dropbar fahren? Ist auch keine neue Idee, sondern eigentlich eine sehr alte, aus der Vor- und Frühgeschichte des MTBs.
Und tatsächlich – auf extremen Routen wie dem Atlas Mountain Race oder den wilderen Abschnitten der Tour Divide funktionieren diese Bikes beeindruckend.
Sie schlucken, wo Gravelbikes kämpfen. Sie bleiben stabil, wo alles andere tanzt.
Aber: Der Preis ist hoch.
Dropbar-MTBs sind schwerer, wartungsintensiver und träge. Die Aerodynamik ist meist schlechter, die Sitzposition ungünstiger. Federgabeln wollen gepflegt werden, Dichtungen geölt, Dämpfer kontrolliert.
Federstützen klackern, Schmutz setzt sich fest.
Das alles für Komfort, den ein moderner Gravelreifen mit 50–55 mm bei 2 bar fast genauso liefert – nur leiser, einfacher, stressfreier.
Geometrie: angepasst, aber einseitig
Eine Dropbar verändert die komplette Ergonomie.
Um sie fahrbar zu machen, verlängern Hersteller den Reach, verkürzen die Front, heben das Tretlager.
Das Ergebnis: stabil bergab, aber träge im Flachen.
Diese Räder sind auf Kontrolle und Abfahrt optimiert, nicht auf Effizienz.
Sie fahren sich sicher, aber sie rollen nicht frei.
Für hochalpine Strecken sinnvoll – für Brandenburg oder Norwegen schlicht Overkill.
Wartung & Realität: Kein KISS
Gravel lebt vom Prinzip KISS – Keep It Simple, Seriously.
Keine Ölkammern, keine Lockouts, kein ständiges Schrauben.
Nur Luft, Gummi, Druck – und Ruhe.
Dropbar-MTBs durchbrechen das Prinzip.
Sie sind fahrende Komplexität, wo Gravel eigentlich Vereinfachung war.
Fazit: Versuch und Versuchung
Vielleicht ist das Dropbar-MTB die Evolutionsstufe, die Gravel überhaupt erst so weit gebracht hat.
Oder es ist der absterbende Zweig – ein letzter, wilder Auswuchs, bevor sich die Gattung neu sortiert.
Denn die Wahrheit ist: Was Dropbar-MTBs heute können, können moderne Gravelrahmen mit 2,2-Zoll-Freiraum längst auch.
Nur ohne Ölwechsel. Ohne Overkill. Ohne Ausreden.
Die Zukunft gehört Rädern, die mehr können, ohne mehr zu wollen.
Gravel wächst – nicht in Richtung Mountainbike, sondern in Richtung Realität.
Laufräder: Breite Felgen, echter Fortschritt
Die Reifen werden breiter – und die Felgen ziehen nach.
Wer 50 mm plus fährt, braucht keine schmalen Carbonhörnchen mehr, sondern eine solide Basis, die das Volumen trägt, die Flanken stützt und den Luftdruck optimal verteilt.
Innenbreite ist der neue Rollwiderstand
Die zentrale Kennzahl heißt Innenmaulweite.
Früher: 19 mm – Rennradmaß.
Heute: 25–27 mm sind Standard für Gravel, 30 mm für das obere Ende (2.1″–2.2″).
Eine breitere Felge formt den Reifen runder und stabiler. Die Seitenwand steht nicht mehr spitz, sondern bildet ein flaches, kontrolliertes Profil.
Ergebnis: mehr Kurvenhalt, mehr Komfort, weniger Walken, gerade bei niedrigem Druck.
Zipp war einer der ersten Hersteller, der das ernst nahm.
Die aktuelle Zipp 303 Firecrest (25 mm innen) ist eigentlich das Paradebeispiel der „Allroad-Felge“: leicht, aerodynamisch, tubeless-optimiert, mit breitem Felgenbett.
Sie fährt sich auf 45–50 mm Reifen fast ideal – stabil, schnell, vibrationsarm.
Die günstigere Zipp 303 S (23 mm innen) funktioniert ebenfalls gut bis etwa 45 mm, ist aber bei 50 mm schon grenzwertig.
ENVE G23 (23 mm) war einst State of the Art, wirkt heute fast konservativ.
ENVE reagierte: die neueren SES 3.4 AR bringen 25 mm Innenbreite und sind bis 50 mm Reifen freigegeben – ideal für Race-Gravel und Allroad.
Tubeless ist Pflicht
Breite Reifen funktionieren nur sauber, wenn sie tubeless gefahren werden.
Schläuche machen bei 2 bar Druck keinen Sinn: zu viel Reibung, zu hohes Durchschlagrisiko, zu wenig Grip.
Tubeless-Dichtmilch + 25 mm Felge = das neue Standard-Setup.
Alles andere ist Nostalgie.
650b? Nur noch für Spezialfälle
Die Ära des kleinen Laufrads (650b) geht zu Ende.
Mit moderner Geometrie und 700c-Felgen bis 2.2″ verliert 650b seinen Vorteil.
Weniger Auswahl, mehr Rollwiderstand, keine echten Vorteile mehr.
Wenn du heute ein neues Gravelbike kaufst: Bleib bei 700c, geh breit – fertig.
Berlin & Brandenburg: Realitätstest
Wer in Brandenburg fährt, braucht keine Theorie. Hier zeigen sich Unterschiede nicht in Watt, sondern in Weitkommen. In Ankommen, nicht Fluchen.
Sommer-Sandpisten: 50 mm rollt weiter, wo 38 mm einsinkt. Der märkische Sand ist gnadenlos ehrlich.
Kopfsteinpflaster & Baustellenasphalt: Breiter gleich ruhiger. Berlin ist kein Labor, Berlin ist Krieg.
Pendelalltag in Berlin: 50 mm frisst Tramschienen und Schlaglöcher – ohne Drama, ohne Rache, ohne Rückenschmerzen am Abend.
Breit bedeutet nicht Bequemlichkeit. Breit bedeutet Funktion. Und in den meisten Fällen: Speed. Weil du nicht bremsen musst. Weil du nicht ausweichen musst. Weil du einfach fährst.
Fazit: Performance trifft Adventure – und beide gewinnen
Wer heute ein Gravelbike kauft, das weniger als 50 mm Reifenfreiheit bietet, kauft am Trend vorbei, wenn man ernsthaft von „Offroad“ spricht.
Wer primär auf Asphalt und festem Schotter unterwegs ist, kauft Allroad – schneller, effizienter, aber mit weniger Reserve.
Wer Gravel will, braucht Volumen.
Und wer zukunftssicher kaufen will, achtet nicht auf Marketingnamen, sondern auf Raum. Denn die Entwicklung geht eindeutig Richtung 50 mm +.
Was heute breit gilt, ist morgen Standard. Und was gestern „Gravel“ hieß, ist heute Allroad.
Ehrlicher wäre, wenn die Industrie das einfach zugibt.
Wer zukunftssicher kaufen will, achtet auf:
- Mindestens 50 mm Reifenfreiheit (700c) – alles andere ist Nostalgie oder Mogelpackung
- 1×-Kompatibilität – weil Einfachheit gewinnt
- Matschfreiheit und klare Geometrie – weil Form der Funktion folgt
- Wer Asphalt liebt, fährt Allroad.
- Wer Realität liebt, fährt breit.
Denn das, was heute breit gilt, ist morgen Standard. Und das, was früher Rennrad mit Stollen war, ist heute veraltet. Geschichte.
Gravel ist nicht mehr Randerscheinung, sondern Realität – auf Events wie Grevet, auf Touren rund um Berlin, auf Schotter, Sand, Wald und Waschbrett. In Norwegen und Franken, in Brandenburg und den Harz.
Breiter heißt nicht gemütlicher.
Breiter heißt: funktioniert wirklich. Und zwar schneller.
Die Physik hat gesprochen. Die Rennresultate haben geliefert. Jetzt ist es an der Zeit, dass der Markt nachzieht – und endlich ehrlich wird.
Transparenzhinweis
Der Autor steht in Kooperation mit Fara Cycling. Teile des getesteten Materials (Rahmen, Setup) wurden im Rahmen einer Partnerschaft zur Verfügung gestellt. Die redaktionelle Einschätzung erfolgt unabhängig und spiegelt ausschließlich die persönliche Erfahrung des Autors wider.
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