Gemeinsam statt einsam

Ich hatte keine Party erwartet – ich war an einsame Fahrten und ruhige Nächte gewöhnt. Stattdessen startete ich am späten Nachmittag gemeinsam mit 300 anderen Radfahrenden. Tausende waren bereits unterwegs. Es war Ende August und ich befand mich in Rambouillet, dem Startpunkt von Paris-Brest-Paris, einer alle vier Jahre stattfindenden Langstreckenveranstaltung über 1200 Kilometer. Mit fast 7000 Teilnehmende und einer Geschichte von mehr als einem Jahrhundert zählt sie zu den renommiertesten Randonneur-Veranstaltungen weltweit. Freunde, die nicht mit der Radsportwelt vertraut sind, konnten kaum glauben, dass Menschen aus Ländern wie Indien oder Japan angereist waren, um sich dieser 1200 Kilometer langen Herausforderung zu stellen und die Strecke innerhalb der 90-Stunden-Zeitvorgabe zu absolvieren. Zudem mussten sich die Teilnehmer zunächst überhaupt einmal qualifizieren, indem sie im Frühling vor dem Hauptevent an vier Fahrten mit ansteigender Länge (200, 300, 400 und 600 Kilometer) teilnahmen.

Die Landschaft ist nicht besonders reizvoll, die Strecke führt ständig auf und ab und erinnerte mich an die Uckermark, jedoch mit etwas größeren Hügeln. Doch es ging nicht um die Route, auch nicht um das Fahren an sich. Vielmehr spielte die festliche Atmosphäre rund um die Veranstaltung eine zentrale Rolle. Es ging über die Dörfer, die die vorbeifahrenden Radfahrende feierten und die Gespräche mit den anderen Teilnehmende waren eine willkommene Ablenkung vom puren Radfahren. Es fühlte sich an wie ein großes Festival, bei dem die Teilnehmer ihre besten und originellsten Fahrräder präsentierten: moderne Carbonrahmen und klassische Stahl-Randonneur-Bikes, aber auch Tandems, Velomobile und einige Fixies.

Schlafwandler: durch die Nacht

In der ersten Nacht finde ich es zunächst schwer, einen Rhythmus zu finden, bis ich auf Luca treffe, einen pensionierten Zimmermann aus Italien, der bereits vor vier Jahren teilgenommen hat. Wir fahren in einer kleinen Gruppe, die Anspannung vom Start lässt nach und ich beginne, das Hiersein zu genießen, umgeben von so vielen Menschen entlang dieser sanften Hügel. Langsam tauche ich ein in eine Parallelwelt, die die nächsten 80 Stunden andauern wird. Alles, worauf es ankommt, ist die Straße vor mir, die zurückgelegten Kilometer, die die noch vor mir liegen und das, was hier geschieht. Selbst die Nachrichten, die ich beim Blick auf mein Handys erhalte – herzliche Worte der Ermutigung von Freunden und Familie – fühlen sich mehr und mehr wie aus einer anderen Welt an.

Es ist schon dunkel – der Beginn der zweiten Nacht – als ich Samuel und Toni treffe. Sie kommen aus Leipzig und schnell stellen wir fest, dass wir im Frühling an denselben Qualifikationsveranstaltungen teilgenommen haben. Ihre Gesellschaft hilft mir, Carhaix zu erreichen, den letzten Kontrollpunkt vor Brest bei Kilometer 513. Diese Kontrollpunkte liegen etwa 80 Kilometer voneinander entfernt und sind immer leicht chaotische Orte, überfüllt mit Radfahrenden. Hier wird ein Brevet-Stempel auf die Karte gedrückt und selbst während der Nacht gibt es Freiwillige, dank derer man in einer Kantine essen, Toiletten benutzen oder in großen Hallen schlafen kann. Doch die warmen Temperaturen verleiten dazu, sich auf ein Stück Gras draußen zu legen. Bereits in der ersten Nacht waren die Straßenseiten mit Teilnehmende übersät, die an jeder möglichen Ecke schliefen (oder vielleicht ein Power-Napping machten) und auch jetzt sind überall verstreute Radfahrende, die sich ausruhen, immer noch ein vertrauter Anblick. Ich habe einen kleinen Schlafsack dabei, entscheide mich jedoch irgendwie dafür, drinnen zu bleiben und für drei Stunden auf dem Boden der Kantine zu schlafen, bevor es weitergeht Richtung Brest und der Atlantikküste.

Die Überwindung des Nullpunkts

Aber bevor ich Brest erreiche, erlebe ich den ersten Tiefpunkt der Fahrt. Alle meine Energien sind erschöpft, ich komme selbst im kleinsten Gang kaum bergauf und ich fühle mich leer. Ich kenne dieses Gefühl bereits und weiß, dass die Energie zurückkommen wird, aber ich hatte nicht erwartet, es so früh auf der Strecke zu erleben. Leute überholen mich und ich gerate in den üblichen Strudel negativer Gedanken, den solche Momente begleiten. Vielleicht werde ich krank. Vielleicht ist das einfach auch alles zu viel von allem… Während diese und ähnliche Gedanken meinen Kopf füllen, beginne ich, einem Paar zu folgen und Hügel um Hügel finde ich langsam wieder einen Rhythmus. Genauso wie sie verschwand, kommt die Energie auf unerklärliche Weise zurück und bis ich in Brest ankomme, kann ich wieder jeden kleinen Hügel sprinten. Die Route ist ausgeschildert, an jeder Kreuzung gibt es ein Schild das anzeigt, welcher Straße man folgen soll. Ich bin am Wendepunkt angekommen und kann nun den Schildern folgen, die zurück nach Paris zeigen. Der Tag verläuft fast schon routinemäßig: wieder Begegnungen mit anderen Radfahrenden, Gespräche mit neuen, Stopps an Kontrollen, die übliche Nachmittagshitze, ein neuer Energietiefpunkt, als die Dunkelheit hereinbricht, eine Matte, auf der ich drei Stunden in Loudeac schlafe und dann das Weiterfahren durch den Rest der Nacht. Eine Ruhe und Klarheit des Geistes scheinen das Fahren in der Dunkelheit zu umgeben, die Gespräche mit anderen Fahrenden haben pausiert, viele schlafen am Straßenrand, und diejenigen, die noch fahren, bilden eine Reihe roter Lichter, die immer vor mir sichtbar bleibt.

Am Morgen des dritten Tages schließe ich mich kurz einer schnelleren Gruppe an. Weniger als 400 Kilometer sind noch übrig und die Denkweise hat sich geändert: plötzlich scheint das Ende in Reichweite zu sein. Die Hügel sind nicht mehr so steil wie in der Bretagne, oder vielleicht hat sich mein Körper angepasst, aber die letzten Stunden vor Villaines la Juhel machen Freude. Ich befinde mich in einem perfekten Flow-Zustand und ich denke sogar darüber nach, so weiterzufahren, bis ich das Ziel erreiche. In der Hitze des Nachmittags halte ich am Straßenrand an, um meine Flaschen aufzufüllen und etwas an einer der vielen improvisierten Verpflegungsstellen zu essen. Hier haben lokale Zuschauer ein kleines Buffet mit Crêpes, Wasser und Kuchen unter einem Zelt aufgebaut. Im Gegenzug bitten sie die Fahrende um eine Postkarte, die sie nach Ambrières-les-Vallées schicken sollen. Sie sind keine Ausnahme, selbst nach drei Tagen feiern die Menschen immer noch, wenn wir vorbeifahren, manchmal sogar nachts. Bei der Kontrolle in Villaines la Juhel werden wir von einem richtigen Dorffest begrüßt, mit Einheimischen, die die Seiten der Straße säumen und vorbeifahrende Radfahrende ermutigen. Auch Schulkinder beteiligen sich, indem sie uns herumführen und bei der Übersetzung helfen. Sie freuen sich, unsere Geschichten aus fernen Ländern zu hören oder ein Souvenir zu erhalten, wie einen Koala-Schlüsselanhänger, den ein australischer Randonneur verschenkte. Nach Verlassen der Kontrolle fühle ich mich schwach, das Fahren wird sehr langsam und die Sattelsohlen fangen an, sich zu verhärten. Es ist dunkel, als ich die letzten steilen Rampen vor der Kontrolle in Mortagne-au-Perche bewältige. Ich fahre mit einem spanischen Radfahrer, der an seiner sechsten PBP teilnimmt und meine Energien sind teilweise zurück. Die Kommunikation ist schwierig, aber wir bleiben zusammen bis zur Kontrolle und motivieren uns still. Ich habe immer noch reichlich Zeit, die verbleibenden 100+ Kilometer bis zum Ziel zu bewältigen und ich kann mich entspannen; es sei denn, es passiert eine Katastrophe, sollte ich es bis zum Ziel schaffen. Ich plaudere mit einigen müden Radfahrern, die ich aus Berlin kenne, mache einen kurzen Schlaf und setze meine Reise fort.

Die Ankunft

Die Nacht ist sehr warm, die Lichter anderer Radfahrende sind immer noch überall zu sehen, aber sie scheinen jetzt dünner gesät zu sein: Die Aufregung der ersten Nacht hat sich nun zu einer stilleren Erschöpfung verschoben. Die Sonne geht auf als nur noch 50 Kilometer übrig sind. Sie sind hauptsächlich flach und auf gutem Asphalt, ein passender Abschluss, um die letzten Momente zu genießen. Ich teile kurz die Straße mit Brian, einem 60-jährigen amerikanischen Ex-Militärangehörigen bei seiner dritten Teilnahme. Es ist eine Freude, mit ihm zu plaudern, wir feiern beide bereits innerlich und sind in bester Stimmung, und wir fahren allein die letzten Kilometer.

Bei Annäherung an die Ziellinie bin ich übermäßig aufgeregt und voller Energie. Ich frage mich, ob ich zu konservativ gefahren bin, bereue es, letzte Nacht nicht versucht zu haben, durchzufahren. Vielleicht hätte ich es geschafft, erneut diesen perfekten Flow-Zustand zu erreichen, den ich nur wenige Stunden zuvor hatte. Aber ich erinnere mich auch an all die Zeiten, in denen Dinge schief gelaufen sind, weil ich zu schnell gefahren bin. Ich sollte einfach glücklich sein, es so weit geschafft zu haben, ohne größere Probleme!

Nach 85 Stunden und 26 Minuten befinde ich mich wieder in Rambouillet. Ich bleibe an der Ziellinie, um die Ankunft anderer Teilnehmende zu beobachten. Manche jubeln, feiern ihre Leistung, während andere, sichtlich erschöpft, Schwierigkeiten haben, Emotionen zu zeigen. Einige, die wahrscheinlich mit dem sogenannten Shermer’s Neck kämpfen, können kaum selbstständig von ihren Fahrrädern absteigen. Die Ankunft eines malaysischen Radfahrers wird von einigen Mitfahrern besonders bejubelt – er hat die offizielle Zeitvorgabe um weniger als zwei Minuten eingehalten. Ich erkenne, dass dies für viele, mich eingeschlossen, das Ende einer Reise markiert, die vor einigen Jahren mit den ersten langen Fahrten begonnen hat, gefolgt von den ersten Nachtbrevets und den Qualifikationsbrevets im letzten Frühling. Jeder von uns hat wahrscheinlich eine einzigartige Geschichte und das Ereignis auf seine eigene Weise erlebt. Aber das übergeordnete Ziel, der beherrschende Gedanke, der uns durch unzählige Fahrten begleitet hat, gehört nun der Vergangenheit an. Ich versuche, die Atmosphäre noch einen Moment länger aufzusaugen, aber nach fast vier Tagen auf der Straße ist meine erste PBP vorbei. Die Überraschung, die Unsicherheiten und die Naivität des ersten Mal sind verschwunden – vielleicht komme ich zurück, aber es wird nie mehr dasselbe sein.

English

Pack of lone wolfs

I didn’t expect it to be a party; I was accustomed to solitary rides and tranquil nights. Instead, I start late in the afternoon with 300 other cyclists. And many thousands are already on the road. It’s late August, and I am in Rambouillet at the start of Paris-Brest-Paris, a 1200 km long event held every four years. With almost 7000 participants and more than a century of history, it is one of the most famous randonneur events. Friends unfamiliar with the cycling world found it hard to believe that individuals from as far as India or Japan had traveled just to ride 1200 km within the 90-hour official cut-off time. Moreover, participants had to qualify for the event by completing four rides of increasing distances (200, 300, 400, and 600 km) in the spring preceding the main event.

The scenery is also not particularly attractive, the route constantly goes up and down, reminding me of Uckermark with slightly bigger hills. But it’s not about the route, it’s also not about the plain riding. It’s more about the festive atmosphere surrounding the event, it’s about the villages celebrating the riders passing through and the chats with the other participants, a welcome distraction from the riding. It feels like a big festival and everybody has brought their best and most original bikes: modern carbon frames and classic steel randonneur bikes, but also tandems, velomobiles and a few fixies.

Sleepwalkers – Through the night

I struggle to find a rhythm during the first night, until I join Luca, an Italian retired carpenter who had already participated four years ago. We ride in a small group, the tension from the start decreases, and I start enjoying being here, among so many people along these rolling hills. Slowly, I enter into a mini world that will last for the following 80 hours. All that holds significance is the road unfolding ahead, the kilometers covered, those remaining, and what is happening in this microcosm. Even the messages I receive when checking the phones – welcome words of encouragement from friends and family – feel more and more from a different world.

It’s already dark – the beginning of the second night – when I meet Samuel and Toni. They are from Leipzig, and we soon find out that we participated in the same qualifying events back in spring. Their company helps me make it to Carhaix, the last control point before Brest at km 513. These control points are situated around 80 km apart and are always slightly chaotic places, overfilled with cyclists. Here a Brevet Card is stamped and, even during the night, there are volunteers thanks to whom it is possible to eat at a canteen, use toilets or sleep in big halls. However, the warm temperatures make laying down on a piece of grass outside very tempting. Already during the first night the side of the road was dotted with participants sleeping (or maybe power napping) at every possible corner, and resting cyclists scattered everywhere are still a recurring sight. I have a small sleeping bag with me, but somehow I decide to stay inside and sleep on the floor of the canteen for three hours, before continuing towards Brest and the Atlantic coast.

The turning point

But before reaching Brest, I hit the first low point of the ride. All my energies are gone, I can barely push a granny gear uphill and I feel empty. I already know this feeling and I know that the energy will come back, but I didn’t expect to have it that early in the ride. People overtake me and I fall into the usual spiral of negative reflections that accompany these moments. Maybe I am getting sick. In the end, I am not able to deal with all this riding. While these and other similar thoughts fill my mind, I start following a couple and, hill after hill, I slowly find a rhythm again. Just like they disappeared, energies inexplicably come back and, by the time I arrive in Brest, I am able to sprint every small hill again. The route is signposted, at every crossing there is a sign about the road to follow. I am at the turning point and I can now start following the signs pointing back to Paris. The day keeps going in what seems almost a routine by now: meeting riders again, chatting with new ones, stopping at controls, the usual afternoon heat, a new energy low point as darkness approaches, a mat where to sleep for 3 hours in Loudeac and then riding through the remainder of the night. A sense of calm and a clarity of mind seem to surround the riding in the dark, the chatting with other riders has paused, many are sleeping on the side of the road and those still riding form a row of red lights always visible in front of me.

On the morning of the third day, I briefly join a faster group. Less than 400 km remain, and the mindset has shifted; suddenly, the end seems within reach. The hills are not as steep as in Bretagne, or maybe my body adapted, but the last few hours before Villaines la Juhel are a joy to ride. I am in a perfect flow state and I even think about keeping going like this until the finish. In the heat of the afternoon, I stop on the side of the road to refill my bottles and eat something at one of the many improvised roadside refreshment points. Here, local spectators have set up a small buffet with crepes, water and cakes under a tent. In exchange, they ask for a postcard to be sent to their home in Ambrières-les-Vallées. They are also no exception, even after three days people are still celebrating our passage, sometimes even at night. In the control in Villaines la Juhel we are welcomed by a proper village festival, with locals lining the sides of the road and encouraging passing riders. Schoolchildren also participate by showing us around and assisting with translation. They are happy to hear our stories from faraway places or to receive a souvenir, like a koala keyring donated by an Australian randonneur. I feel weak after leaving the control, the riding becomes very slow and saddle sores start intensifying. It’s dark when I tackle the last few steep ramps before the control in Mortagne-au-Perche. I am riding with a Spanish cyclist on his 6th PBP, and my energies are partially restored. Communication is difficult, but we stick together until the control, silently motivating each other. I still have plenty of time to cover the remaining 100+ km to the finish, and I can relax; barring disaster, I should make it to the finish. I chat with a few tired riders I know from Berlin, have a brief nap, and continue my journey.

The arrival

The night is very warm, lights from other cyclists are still everywhere, but they seem more sparse now: the excitement of the first night has now shifted to a more silent exhaustion. The sun comes out when there are only 50 km left. They are mainly flat and on good asphalt, a fitting ending to enjoy the last moments. I shortly share the road with Brian, a 60-year-old American ex-military at his third participation. It is a pleasure to chat with him, we are both already innerly celebrating and in a clear good mood, and we keep riding alone for the last few km.

Approaching the finish line, I feel overexcited and full of energy. I start wondering if I rode too conservatively, I regret not having tried to ride straight through last night. Maybe I might have managed to reach that perfect flow state I had just a few hours back. But I remind myself of all the times when things went wrong in the past by going too fast; I should just be happy to have made it that far without any major problems.

After 85 hours and 26 minutes, I find myself back in Rambouillet. I linger at the finish line, eager to witness the arrival of other participants. Some are in a jubilant mood, celebrating their accomplishment, while others, visibly exhausted, struggle to express any emotion. A few, likely suffering from Shermer’s neck, find it challenging to dismount from their bikes independently. The arrival of a Malaysian cyclist is met with special cheers from fellow riders; he barely made the cut-off time by less than two minutes. I recognize that, for many, myself included, this marks the conclusion of a journey that started a few years ago with the initial long rides, followed by the inaugural brevets through the night and the qualifying brevets last spring. Each person likely carries a unique story and experienced the event in their own way. However, the overarching goal, the pervasive thought that accompanied us through countless rides, has now become a thing of the past. I attempt to soak in the atmosphere for a little longer, but after nearly four days on the road, my inaugural PBP experience has concluded. The surprise, the uncertainties, and the naivety of the first time have dissipated – while I might come back, it will undoubtedly never be the same.

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